Ein Besuch im Dunkelrestaurant und ein Interview mit einem Blinden

Sieht ein Blinder schwarz vor Augen? Und weiss er überhaupt, wie schwarz aussieht?

Das frage ich mich, als ich mit meinem Vater in der langen Warteschlange vor der Rosenau stehe und auf den Einlass ins Dunkelrestaurant warte.


Uns erwartet:

  • Dunkelheit
  • 3-Gänge-Menü
  • Dunkelheit
  • 30 Minuten Live-Kulturprogramm
  • immer noch Dunkelheit

Als wir an der Kasse unseren 15 Euro schweren Getränkebeutel mit 1- und 2-Euro Münzen erhalten, mit denen wir später unsere Heiss- und alkoholischen Getränke bezahlen werden, wird mir so richtig bewusst, dass wir in eine ganz andere Welt eintauchen werden.

Nachdem wir unsere Jacken abgegeben haben, steht unsere sympathische Tischbedienung vor uns: Mike. Mitte 30 und seit Geburt zu 95 % sehbehindert. Seine Augen sind von einem weisslichen Schleier bedeckt. Wir sehen, dass er so gut wie nichts sieht. Aber nun werden wir für mehrere Stunden in seine Welt eintauchen – und die Blinden sein, während er der Sehende ist.

Wir sind zehn Leute, die für einen Tisch zugeteilt sind. Um nicht im Dunkeln gegen die Tische zu laufen, stellen wir uns in einer Reihe hintereinander auf und fassen jeweils an die Schultern des Vordermanns. So gelangen wir – Mike vorne weg – ins Restaurant. Auf dem Weg in den Speisesaal passieren wir mehrere dicke Vorhangtüren. Hinter jeder wird es immer dunkler, bis die Dunkelheit uns völlig umhüllt.

Ich fühle mich unwohl, irgendwie angreifbar und habe das Gefühl, meinen äusseren Halt verloren zu haben. Wo bin ich? Wie gross ist der Raum? Wie viel Leute sind schon da? Wo stehen die Tische und wie sieht es hier aus?

Unsicher lasse ich mich von Mike an meinen Stuhl führen. Ich bin froh zu sitzen, denn so „sehe“ ich mit meinem Körper, dass unter mir ein Stuhl und vor mir ein Tisch ist. Eine Studie sagt, dass man rund 80 % über die Augen wahrnimmt und den Rest über die anderen Sinne. Herzlich willkommen in der Orientierungslosigkeit!


Der gemeinnützige Verein aus:sicht e. V. fördert Arbeitsplätze in den Dunkelrestaurants an den Standorten Stuttgart (Rosenau) und Esslingen (Reichsstadt).

Die Stimme ohne Gesicht – dafür mit Frisur und Kleidung

Neugierig langen wir erst mal alle vorsichtig auf den Tisch und erspüren unser Umfeld. Da steht ein Teller und da liegt Besteck und oh, eine Hand? Ach nein, die gehört zu meinem Nachbar, der sich gerade an meiner Gabel zu schaffen macht! Da wird man dreist im Dunkeln …  So kommen wir alle ins Gespräch.

Ich habe zwar vorher die Menschen gesehen, die mit uns an einem Tisch sitzen, habe aber keine Ahnung, wer da vor oder neben mir sitzt (ausser Papa – selbstredend – der sitzt links von mir). Aufgrund der Stimmen stelle ich mir nun meine Tischnachbarn vor. Zumindest fällt mir gleich ein grobes Alter ein und welche Frisur wohl zur Stimme und Aussprache passt: wild verwegen oder adrett und korrekt? Legere Typen oder „korrekte Anzugträger“? Zudem entscheide ich mich in den ersten Sekunden, ob mir der Mensch sympathisch erscheint. Ich merke schon: Ich als Sehender male mir sofort ein Bild von dem Menschen und stecke ihn in eine Schublade. Blinde würden nur ein Gefühl spüren für Sympathie oder Antipathie, dessen Massstab die Ausstrahlung in der Stimme ist.

Nach einer kurzen Ansprache von einer Stimme aus der Dunkelheit erweitere ich meine Orientierung um die Bühne, die etwas entfernt schräg rechts hinter mir sein muss. Der Moderator kündigt den ersten Gang an: die Vorspeise. Keiner weiss, was für eine. Bei der Buchung konnte man sich lediglich für ein vegetarisches Menü oder das Fleischmenü entscheiden.

Ganz aussen liegt ein Löffel. Demnach muss es wohl eine Suppe sein, die mir Mike auf den Teller stellt. Er berührt uns immer an der Schulter und kommt immer von der rechten Seite. So wächst ein wenig Vertrauen, weil wir wissen, wie das Auftischen und Abräumen abläuft. Was wir gegessen haben, wird nach dem Gang verraten, so bleibt jede Verkostung ein spannendes Erlebnis und eine Herausforderung für Geruch und Geschmack. Vorsichtig ertaste ich die Schale, tauche den Löffel hinein und führe ihn an meinen Mund – und treffe sogar! Es ist Suppe.

Konsistenz und Geschmack werden ausgiebig geprüft und debattiert. Irgendwas mit Karotte, glaube ich, und sie ist erfrischend.  Schmeckt auf jeden Fall sehr gut. Ich hänge so nah über der Suppenschüssel, dass ich sie beinahe mit meinem Kinn berühre. Bloss nicht die Suppe auf dem Weg zum Mund in die schwarze Leere verlieren! Einer kleinen Tisch-Umfrage zufolge, hängen wohl alle ähnlich wie ich über dem Tisch …

„Den Löffel bitte noch“, sagt Mike beim Abräumen zu meinem Vater, als dieser ihm seine Schüssel in die Dunkelheit reicht. „Oh warte, ich habe auch noch meinen Löffel!“, sage ich, da ich meinen auch nicht in die Schüssel gelegt hatte. Mike erwidert freundlich: „Nee, hast du nicht!“ Tatsächlich. Da hat er doch meinen Löffel ertastet und mitgenommen, ohne dass ich es gemerkt habe. Kluges Kerlchen. Nach dem Gang werden wir darüber aufgeklärt, was wir gegessen haben:

Vorspeise:

Karotten-Orangen-Ingwer Süppchen

So unterhalten wir uns bis der nächste Gang kommt. Ich ertappe mich dabei, dass ich in die Richtung meines Gesprächspartners schaue und aktiv zuhöre. Bei Zustimmung nicke ich mit dem Kopf. Bis ich innehalte und mir ein wenig dämlich vorkomme …  Genauso gut könnte ich wie Papa die Augen schliessen. Er meint nämlich, er sieht ja eh nichts, da kann er auch gleich die Augen zulassen. So geht jeder anders mit der Dunkelheit um. Die Umgebung ist laut. An allen Ecken und Enden hört man Besteck klappern, Geschirr klirren, Gesprächsfetzen und Gelächter. Es ist sicherlich normal laut, aber da ich mich auf nichts anderes als mein Gehört konzentriere, erscheint mir alles viel lauter.

Wir wollen auf den Abend anstossen und bestellen uns Weisswein. Die Bezahlung dauert eine Weile, da ich mit meinem Nagel an den Münzrändern entlang fahre und den Rillenabstand befühle. Ebenfalls versuche ich, die Grössen der Münzen zu vergleichen. Gar nicht so einfach.



Nachdem der Weisswein (Drehverschluss) offen ist, schenken wir uns jeder selbst ein. Ich giesse nach Gefühl ein und stelle die Flasche zurück. Im Dunkeln bewege ich mein Glas nach links, mein Vater seines nach rechts, in der Hoffnung, dass wir miteinander anstossen. Beim zweiten Anlauf klappt es. Es ist komisch, in der Schwärze Distanzen abzuschätzen, auch die Höhe meines Glases kenne ich nicht und führe es vorsichtig zu meinen zusammengepressten Lippen, bis ich es so positioniert habe, dass ich zum Trinken ansetzen kann.  Ich warte auf den Wein und kippe das Glas immer höher. Als es senkrecht steht, wird mir klar, dass ich mit meinem „Einschenken nach Gefühl“ keinen Tropfen in das Glas gegossen habe …

„Ich spiele auch Fussball“, sagt Mike.

Wir interessieren uns für Mike und fragen ihn, wie es für ihn ist, blind zu sein und wie er sich hier zurechtfindet. „Wir schnipsen zum Beispiel mit den Fingern, wenn wir den Gang entlanglaufen, dann hören wir, ob jemand entgegen kommt.“ Auch in der Liebe gibt es keine Hindernisse. „Ich verliebe mich in das Gefühl, das ich in ihrer Gegenwart habe, wie angenehm ihre Gesellschaft ist, wie viel Wärme sie in ihrer Stimme und ihrem Verhalten ausstrahlt.“ Er spielt sogar Fussball, erzählt er.

Ausschliesslich die Torwarte dürfen sehen können. Im Ball befindet sich eine Rassel, die ihn hörbar macht. Unvorstellbar, aber wahr! Mike gibt mir an diesem Abend Sicherheit in der Dunkelheit.  Kein Sehender kann ihm in dieser Welt das Wasser reichen.


Beim Blindenfussball dürfen nur die Torwarte sehend sein. (Bild: © Bettina Hielscher)

Der Hauptgang wird auf unsere Teller gestellt und die Essenssuche geht los. Ich habe das vegetarische Menü bestellt. Erst einmal mit der Gabel von oben in jeden Tellerbereich piksen und die Konsistenz überprüfen. Da ist was Weiches, da etwas Härteres, da nichts und da etwas Glitschiges. Ich erfühle die Grösse und versuche, die Dinge kleinzuschneiden, die mir gross erscheinen, sie aufzuspiessen und in meinen Mund zu führen, ohne zu wissen, was es sein wird.

Es ist spannend zu überlegen, was man isst. Selbst die geläufigsten Dinge erkennt man schwer, da die Augen nicht mithelfen. Meine Gabel-Ladung passt irgendwie nicht in meinen Mund. Ich mache ihn noch weiter auf. Das übersteigt aber sein Mass an Dehnbarkeit, und schon hängt Sosse an meinem Kinn. Das Essen muss ich wohl wieder ins Nichts auf den Teller legen und kleiner schneiden. Zum Glück hat mich niemand gesehen. Selbst im Dunkeln kommt ein Gefühl der Scham auf.

Wir geben wieder unsere Meinungen ab. Die Fleischesser – also … die Männer – untereinander und die Frauen untereinander mit ihren vegetarischen Gerichten. Ich bilde mir ein, Tofu zu essen. Und Pilze schmecke ich auch raus. Das war das Glitschige auf meinem Teller. Der Rest ist Spekulation.

Mir schmeckt es, obwohl ich bei den Lobeshymnen der Männer doch auch Appetit auf das Fleischgericht bekomme. Irgendetwas mit Kartoffeln und „hervorragendem Fleisch“ und einer unbekannten Komponente essen diese. Nach dem gefühlt leergegessen ist, suche ich nochmal mit der Gabel systematisch den Teller ab. Tock, tock, tock. Leere Fehlversuche bestätigen mich zumindest darin, dass der Teller leer ist. Ich komme mir vor wie ein Kind, das wahllos auf den Teller pikst. Da kommt Mike und wir erfahren gespannt, was wir zu uns genommen haben:

Vegetarisches Menü:

Dinkelflädle
gefüllt mit Ratatouille-Gemüse
auf Waldpilzragout

*******

Fleischmenü:

Medaillons vom Rehrücken
an kräftiger Jus mit Rosenkohl-Kartoffel-Gratin
und Birnenspalten

Nun ist eine kleine Kulturpause angesagt und der Special Guest kommt auf die Bühne. Er ist ebenfalls sehbehindert, aber entertaint wie ein Profi und bezieht das Publikum mit ein. Er spielt Klavier und trägt Texte vor. Die Stimme vermittelt Wärme und ich kann mir schwer vorstellen, wie er wohl aussehen mag. Aber er war grossartig.

Wir erhalten unseren Nachtisch und ich ertaste eine Schüssel. Als ich sie näher zu mir ziehen will, lange ich versehentlich zu weit ins Innere und spüre weiche Konsistenz. Ups. Spontan identifiziere ich sie als Pudding. Wo ist eigentlich meine Serviette …? Ach ja, zum Glück auf meinem Schoss. Es ist doch kein Pudding, es schmeckt irgendwie kühler. Also eher Eis. Und was Warmes gibt es auch. Schmeckt nach Kirsche und alles zusammen unglaublich gut. Der Geschmack zergeht auf der Zunge.  Der Vorteil der Dunkelheit: Man braucht nicht mal die Augen zu schliessen, um den Geschmack so richtig zu geniessen …

Nachspeise:

Zimteisparfait
auf warmen Sauerkirschen
und Haselnuss-Sahne

Wir lassen den Abend noch etwas ausklingen und werden dann wieder in einer Menschen-Schlange – Tisch für Tisch – aus dem Restaurant geführt. Es ist bereits dunkel draussen. Trotzdem ist es schön, wieder sehen zu können. Ich schätze auf einmal mein Augenlicht, das für mich jeden Tag selbstverständlich ist. Es war ein toller Abend. Eindrucksvoll und unvergesslich. Aber ich kann mir nicht vorstellen, blind zu sein. Für mich wäre es eine schreckliche Vorstellung, aber heute wurden mir im Dunkeln die Augen geöffnet, für eine Welt, für die ich bisher blind gewesen bin.

Vielen Dank für diese Erfahrung!

Über den Veranstalter

aus:sicht e. V. ist ein gemeinnütziger Verein mit dem Bestreben, die Integration von Sehenden und Sehbehinderten in unserer Gesellschaft zu fördern und Arbeitsplätze für sie in den Dunkelrestaurants an den Standorten Stuttgart (Rosenau) und Esslingen (Reichsstadt) zu schaffen. Mehr Informationen findet ihr hier: www.aus-sicht.de.

Wer ein Dunkelrestaurant in der Schweiz sucht, kann die blindekuh in Zürich oder Basel besuchen. Webseite: www.blindekuh.ch.

Vom Sehenden zum Blinden – ein Interview mit Marcel

Marcel hat ein Schicksal getroffen, vor dem wir alle Angst haben. Er konnte sehen und hat aufgrund eines Gendefekts im Alter von 20 Jahren sein Augenlicht verloren. Ich habe mich mit ihm über sein Leben unterhalten.


Das ist Marcel mit seinem Hund. (Bild: © Bettina Hielscher)

Marcel ist 30 Jahre alt und hat kurz vor seinem 21. Geburtstag sein Augenlicht fast vollständig verloren. Eine Vorstellung, die für jeden Sehenden unvorstellbar schrecklich ist. Warum er erblindet ist und wie er im Leben zurechtkommt, erzählt er mir im Interview.

1. Warum bist du erblindet?

Durch einen Gendefekt, sprich, mein Sehnerv ist langsam abgestorben. Vom Beginn der Krankheit bis zur fast vollständigen Erblindung hat es ungefähr 5-6 Monate gedauert. Beginnend mit einem Punkt inmitten des Auges, welcher grösser wurde, bis er fast über das gesamte Auge gereicht hat. Ich kann noch minimal hell und dunkel am Augenrand wahrnehmen, was ich voll ausreize und mir doch irgendwie ein wenig hilft.

Auch wenn es in der Familie vererbt ist und mein Bruder, Onkel und meine Oma den gleichen Defekt hatten, ist es doch bei allen ein wenig anders. Dies ist eine sehr seltene und unberechenbare Krankheit, da man nicht weiss, ob sie kommt und wenn doch, wann, wie schnell und in welchem Ausmass sie endet.

2. Was ging in dir vor, als dir dein Schicksal bewusst wurde?

Was, oh man, warum ich?! Was habe ich in meinen Leben verbrochen, dass ich es jetzt doch bekomme. Warum??? Das war die grosse Frage, die ab und zu immer noch aufkommt und mich beschäftigt. Aber dass ich nicht mehr in meinem Traumberuf als Koch weiter arbeiten konnte, hat mich innerlich viel mehr zerstört, denn in dem hatte ich noch sehr viel vor.

3. Wie hast du die noch sehende Zeit genutzt?

Ich bin jeden Tag in die Küche und habe gearbeitet. Ich denke, dies war Ablenkung. Ich habe nichts Grosses unternommen, irgendetwas, das ich auf jeden Fall machen wollte, oder so. Denn es hätte auch über Nacht auf einmal alles fort sein können. Ja, ich denke es war Ablenkung, das Arbeiten als Koch, das mein Herz und Leben war. Das noch voll auskosten.

4. Wie geht es dir jetzt? Hast du das Blindsein angenommen?

Ich bin eigentlich der Ansicht, dass ich dies sofort akzeptiert habe. Ich habe sofort irgendwie weitergemacht. Daher auch das weitere Arbeiten in der Küche. Es hat mich natürlich innerlich sehr fertig gemacht und ich war oft am überlegen, wie ich was machen kann oder wie es weiter gehen kann, da eben eine gesamte Welt für mich zusammengebrochen ist. Jedoch gab es einen banalen Vorteil für mich: Da eben unter anderem mein Bruder schon betroffen war, wusste man, wie und wo man sich an welche Behörden, sprich Weiterbildung, Umschulung, Blindengeld usw., wenden muss. Somit lief mein Vertrag aus und ich bin drei Monate später nach Würzburg gegangen, um dort eine sogenannte blindentechnische Grundrehabilitation zu absolvieren. Das heisst, die Blindenschrift zu erlernen und mit dem Stock laufen und sich orientieren zu lernen. Direkt im Anschluss hab ich eine Umschulung gemacht.

5. Was fehlt dir am meisten im Vergleich zu damals?

Ach je, da gibt es nichts Bestimmtes. Wobei es mittlerweile eine Person gibt, die ich so gerne sehen würde und die ich noch nie gesehen habe, oder die Kinder meiner Geschwister. Ich habe natürlich Bilder von ihnen im Kopf, jedoch verändert man sich ja optisch und die Bilder in meiner Erinnerung sind immer noch die von vor zehn Jahren.

Aber es geht eigentlich nicht darum, was einem fehlt, sondern man lernt, wie ich finde, eher zu vermissen. Und diese Dinge, die man wirklich vermisst, sind eigentlich nur Kleinigkeiten, Banalitäten. Wie naja, mir war es immer schon sehr wichtig die Leute, mit denen ich mich unterhalte, anzusehen, ihnen ins Gesicht zu schauen. Denn man kann so viel aus den Augen und aus der Mimik lesen. Das fehlt mir sehr. Zum Beispiel in einer Beziehung, wenn man sich sehr gut und innig unterhält, die kleinen Gesten mit den Händen, wie man die Nase vielleicht rümpft, das Leuchten und das Funkeln in den Augen, wenn man seiner Liebsten etwas Schönes erzählt. Das ist unersetzlich! Bis hin zu den Sternen, Sternschnuppen oder dem Sonnenuntergang am Strand.

Ich weiss, wie all das aussieht und vermisse es sehr.

6. Hast du Angst, deine Erinnerung an alles, was du gesehen hast, zu verlieren?

Ich denke nicht, dass dies so schnell und einfach geht, aber ich denke, auch das vergisst man mit der Zeit. Leider. Also ja, ich habe ein wenig Angst davor.

7. Welche Hobbys hast du und wie kannst du sie ausüben?

Direkt als ich nach Würzburg gekommen bin, hat der Blindenfussball Einzug in Deutschland gehalten, den ich auch seit der Gründung privat so wie in einem Projekt der Telekom „neue Sporterfahrung“ ausübe und unterrichte. In diesem Projekt treffen Sehende sowie stark sehbehinderte und blinde Menschen aufeinander, mit dem Ziel, über den Sport die Barrieren zwischen ihnen abzubauen.

8. Was arbeitest du?

Ich habe zum Fachinformatiker in Anwendungsentwicklung umgeschult, jedoch ist es blind sehr schwer, etwas zu finden. Aus den verschiedensten Gründen. Sei es Unwissenheit, schlechte Erfahrung, falsches Wissen oder vieles mehr.

Zurzeit arbeite ich als Teamleiter im Dialog Museum in Frankfurt. Dort kann man sich 60-90 Minuten in dunklen Räumen aufhalten, in denen unterschiedliche Alltagssituationen dargestellt werden. Die Sehenden, denen so das Augenlicht für bestimmte Zeit genommen wird, erleben diese bekannten Situation nun völlig neu. Die Führungen werden von Blinden oder Sehbehinderten geführt werden.

9. Bewegst du dich nur im sicheren Umfeld oder auch alleine in fremder Umgebung?

Ich bin jetzt erst umgezogen und habe hier keine Leute, die ich kenne und die mir gross helfen könnten. Ich gehe demnach allein in fremde Städte oder Parks oder Ähnliches … Natürlich ist es einfacher, wenn man sich immer nur im bekannten Umfeld bewegt, aber es gibt so viel mehr. Und warum sollte ich mich hier dann zurückziehen. Nein, da bin ich ganz flexibel, was jedoch auch so manchen wundert.

10. Hast du einen Blindenhund?

Ja, ich habe eine ausgebildete Blindenführhündin, sie heisst Lucy. Ich habe sie auf einem etwas untypischen Weg erhalten, kenne sie nämlich schon seitdem sie einen Tag alt ist. Ich habe sie grossgezogen und dann in eine Ausbildung gesteckt.

11. Sehende legen Wert auf materielle Dinge. Hat sich das bei dir geändert?

Mir sind materielle Dinge schon noch wichtig, zum Beispiel habe ich einen extrem guten Rechner und einen grossen 3D-Fernseher (okay, den hab ich damals eher wegen meiner Ex gekauft) oder spiele gerne auf der Wii, wenn jemand zu Besuch ist. Auch auf Konzerte gehe ich sehr gerne. Aber ich ziehe auch viele Dinge, wie eine gute Unterhaltung, vor. Was aber richtig wichtig ist, ist die Technik. Wenn die nicht läuft ist das sehr nervig.

12. Wie bedienst du dein Laptop oder dein Handy?

Das mache ich mittels einer Sprachausgabe. Das bedeutet, dass ich den Computer nur mit der Tastatur bediene und mir der Bildschirminhalt dann vorgelesen wird.
Am Handy ebenso. Hier ist auf dem iPhone standardmässig das sogenannte Voiceover installiert. Dort wird alles unter dem Finger vorgelesen und so kann ich auch einige der Apps nutzen und bin quasi flexibel mobil funktionsfähig.

13. Wo schränkt dich dein fehlendes Sehvermögen besonders ein?

Was sehr schwer ist, ist Leute kennen zu lernen, da absolut alles über Blickkontakt abläuft. Ich kann nicht in einer Bar mal die Frauen überfliegen und sagen: „Ah, die ist süss, die spreche ich an.“ Aber auch anders rum: Eine Frau macht mir schöne Augen oder Andeutungen, zu ihr rüber zu kommen. Das bekomme ich natürlich nicht mit und dass ich einen Stock habe, fällt dort auch nicht gleich auf. Ich schaue vielleicht an ihr vorbei oder in ihre Richtung, aber sie hat den Eindruck, ich finde sie uninteressant. Eine Stunde später stehe ich dann auf und laufe mit meinem Stock davon. Dann aufstehen und mich ansprechen werden wohl die wenigsten tun. Da ist die Hemmschwelle, einen Behinderten anzusprechen, oft viel zu gross. Das finde ich sehr schade.

14. Wie funktioniert das Einkaufen im Supermarkt oder in Kleidungsgeschäften?

Man geht in das Geschäft und fragt an der Kasse freundlich, ob jemand einem helfen kann. Dann läuft man mit der Person durch den Supermarkt. Ausser wohl bei Aldi und Lidl, da die kein Personal haben. Ansonsten natürlich auch mit sehenden Freunden oder Verwandten.

In Klamottenläden ist es ähnlich, da wird man in kleineren Läden eh gleich angesprochen oder man sucht auch die Kasse auf. Aber meistens kommt da schnell einer und fragt, ob er helfen kann. Das ist eigentlich ganz nett.

15. Würdest du sagen, dass dein Leben jetzt ärmer ist?

Nein, sicher nicht. Ich habe eher gemerkt, dass man die Welt mit anderen Augen wahrnimmt. Alle laufen mit so grossen Scheuklappen umher und keiner interessiert sich, was neben, hinter oder vor einem geschieht. Alle sind nur auf sich fixiert. Zudem ist das Optische so extrem wichtig, dass man alle und alles einfach an Hand des Äusseren wahrnimmt und abstempelt. Das ist alles sehr schade, aber das ist eben – leider – unsere Welt.

Ich habe durch mein fehlendes Augenlicht eine Änderung bemerkt und zwar, wie sehr man doch auf ganz andere Dinge bei Menschen achtet – abseits vom Optischen. Man beschäftigt sich eher und anders mit Personen. Was auch sehr interessant sein kann.

16. Hast du einen Traum? Etwas, das du gerne machen oder erreichen möchtest?

Früher wollte ich Koch werden und auf der ganzen Welt arbeiten. Das werde ich nie können. Jetzt wünsche ich mir, dass ich auch endlich mal Glück habe. Dass ich mit der Frau zusammen sein kann, die ich liebe, dass die Familie gesund ist und die Partnerschaft sehr schön harmonisch abläuft, dass beide Arbeit haben und glücklich dabei sind.

Arbeitstechnisch möchte ich auf jeden Fall sehr gerne in der IT was in Richtung Barrierefreiheit  machen. Darauf arbeite ich hin. Etwas, das mir Spass macht und auch etwas, das sehr gut für andere ist.

17. Was möchtest du den Menschen, die sehen können, gerne sagen?

Oh je, das ist nicht so einfach. Macht einfach die Augen auf, achtet mal auf das, was neben euch geschieht. Man kann so froh sein, über das, was man hat. Wenn man dann noch jammert, das ist echt sehr tragisch. Also: Kopf nach oben, aufrecht gehen!!!

Wer mehr über Marcel wissen möchte und was er macht, findet Infos auf seinem Blog Blindgänger oder seiner Homepage: www.m-heim.de.

Ihr habt Fragen an Marcel? Dann schreibt sie als Kommentar unter den Beitrag. Er wird sie euch beantworten.

 

Oberstes Bild: © DUSAN ZIDAR – shutterstock.com

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Mehr zu Bettina Hielscher

Mit sich selbst im Reinen zu sein, ist, glaube ich, die grösste und schwerste Lebensaufgabe: zufrieden zu sein mit sich und seinem Handeln, zu sich selbst zu stehen und sich nicht mehr mit anderen zu vergleichen, weil man den Frieden in sich gefunden hat. Ich möchte dir Inspiration geben, zu dir selbst zu finden und ein Leben im Einklang mit dir zu führen – denn nur so wirst du glücklich in deinem Leben.

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