Street Art und Graffiti – Kunst im Grenzbereich
VON Stephan Gerhard Allgemein Outdoor
Sicher ist längst nicht jede mit der Spraydose erzeugte Darstellung ein ästhetisches Erlebnis. Und viele „Künstler“ bewegen sich nach wie vor in der Illegalität, wenn sie sich betätigen. Doch etliche haben inzwischen auch offizielle Anerkennung gefunden, ihre Kunstwerke werden geschätzt.
Graffiti-Studium möglich
An der Hochschule Luzern lässt sich diese Kunst sogar studieren. Mit dem Studienschwerpunkt „Art in Public Spheres“ wird man zum „Master of Arts in Fine Arts“ – quasi zum akademisch ausgebildeten Graffiti-Künstler. Der Begriff Kunst in öffentlichen Räumen beschreibt dabei im Übrigen gut, worum es bei Street Art und Graffiti geht, denn beide finden ihren Ausdruck im Freien, wo die Öffentlichkeit einen ungehinderten Zugang hat. Die Werke sollen von möglichst vielen Menschen im Alltag gesehen und wahrgenommen werden können. In einer anderen Sichtweise geht es aus der Perspektive des Street-Art- oder Graffiti-Artisten auch darum, sich den öffentlichen Raum zu eigen zu machen. Ein Ereignis ist eine solche Form der Darstellung allemal.
Graffiti und Street Art: ein Definitionsversuch
Versucht man, Graffiti und Street Art näher zu definieren und abzugrenzen, wird man feststellen, dass dies gar nicht so einfach ist. Beide Ausdrucksformen weisen nämlich erhebliche Gemeinsamkeiten und Überschneidungen auf. Grob gesagt geht es bei Graffiti um mehr oder weniger künstlerisch gestaltete Schriftzüge, Zeichen oder Symbole. Bei Street Art steht dagegen die bildliche Darstellung im Mittelpunkt.
Sowohl Graffiti als auch Street Art bedienen sich dabei öffentlich sichtbarer oder zugänglicher Objekte als „Unterlage“ für ihre Darstellung. Gemalt, geschrieben oder gezeichnet wird bevorzugt mit Spraydosen, aber auch Markern, Pinseln, Malerrollen u. a. Die Grenzen zwischen Graffiti und Street Art sind naturgemäss fliessend, denn ob ein Schriftzug zum Beispiel mehr als Schrift oder als Bild interpretiert wird, hängt nicht zuletzt vom Betrachter ab.
Verbindung zu New York und Hip-Hop-Kultur
Auch wenn man den Ursprüngen beider Kunstrichtungen nachspürt, ist wenig Griffiges zu finden. Graffiti in der heutigen Form gab es wohl zuerst, Street Art stellt dagegen eine Weiterentwicklung dar. Das Grundprinzip von Graffiti ist dabei uralt: Die verkürzte symbol- oder zeichenhafte Darstellung von Namen und Gegenständen an Mauern und Wänden findet sich bereits im alten Ägypten oder im antiken Rom. In der Neuzeit sind Graffiti vor allem Ende der 1960er-Jahre in New York parallel zur Hip-Hop-Kultur entstanden. Es blieb lange ein US-amerikanisches Phänomen. Erst in den 1980er-Jahren wurde es in Europa populär, nach dem Ende des Kalten Krieges besonders auch im früheren Ostblock. Street Art folgte den Graffiti dabei immer mit wenigen Jahren Verzögerung. Das mag mit den anspruchsvolleren gestalterischen Anforderungen der bildlichen Darstellung zusammenhängen.
Illegalität: ein Markenzeichen
Viele Graffiti- und Street-Art-Werke sind illegal entstanden. Die Illegalität ist gewissermassen ein Markenzeichen dieser beiden Ausdrucksformen, die ihre Ursprünge in der Gang-Subkultur New Yorks hat. Etliche Künstler bewegen sich heute noch jenseits von Rechtsnormen – quasi im Dunkel der Nacht – und bewahren ihre Anonymität oder sind nur unter Pseudonymen bekannt. Ob es sich um Kunst oder Schmiererei handelt, darüber kann oft trefflich gestritten werden.
Juristisch wird eine unerwünschte Besprühung oder Bemalung eines Objektes als Sachbeschädigung und damit Straftat gesehen. Es handelt sich nach Artikel 144 des Schweizerischen Strafgesetzbuches um ein kriminelles Delikt, das mit einer Geldstrafe oder bis zu drei Jahren Gefängnis bestraft werden kann. Im Kanton Zürich zum Beispiel wurden im vorletzten Jahr über 2500 solcher Sprayer-Delikte registriert, das macht mehr als 40 % der Fälle von Vandalismus aus.
Einstellungen im Wandel
Sicher wird dabei niemand bestreiten wollen, dass sehr viele Spraybilder oder Graffiti keinen künstlerischen Wert haben und tatsächlich nicht mehr sind als eine Sachbeschädigung. Es gibt aber auch Fälle, zu denen sich eine Einschätzung im Zeitablauf ändert. Ein solcher Fall ist der Züricher Künstler Harald Oskar Naegeli, der heute in Düsseldorf wirkt. Der als „Sprayer von Zürich“ bekannte Schweizer wurde Anfang der 1980er-Jahre wegen seiner illegalen Tätigkeit zu neun Monaten Haft und einer hohen Geldstrafe verurteilt. Inzwischen sind einige seiner „Schmierereien“ offiziell als Kunst anerkannt. Ein Beispiel ist seine „Undine“ an der Wand des Deutschen Seminars in Zürich.
Inzwischen haben Street Art und Graffiti die Zone der Illegalität verlassen, obwohl das Spannungsfeld von Kunst und Schmiererei, Ausdrucksform und Sachbeschädigung bestehen bleibt. Es gibt etliche offizielle Auftragsarbeiten für beide Kunstformen, auch von Auftraggebern, von denen man das nicht unbedingt erwarten würde: das Kloster St. Ottilien in Oberbayern hat vor zwei Jahren unter dem Motto „heaven meets earth – Himmel trifft Erde“ Graffiti- und Street-Art-Künstler zur Bemalung von Klosterwänden eingeladen, in Wien gibt es eine offizielle Graffiti-Strasse, die Stadt München hat Teile der Donnersbergerbrücke für Graffiti-Bemalung freigegeben. Auch Street-Art-Festivals und Graffiti-Wettbewerbe werden ausgerichtet – die Liste liesse sich fortsetzen.
Kontroversen bleiben
Nicht jeder, der sich als Spraykünstler versteht, sieht diesen Trend zur Legalisierung mit Freude. Dies gilt umso mehr, als auch in Marketing und Werbung Graffiti- und Street-Art-Elemente Einzug gehalten haben. Die Kommerzialisierung hat längst begonnen. Dadurch gehe die Authentizität verloren, so die Befürchtung. Die Geister dürften sich auch weiterhin an Graffiti und Street Art scheiden.
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