Schweizer Grand Prix Literatur – in diesem Jahr für Adolf Muschg
VON Janine El-Saghir News
In der Schweizerischen Nationalbibliothek wurden am vergangenen Donnerstag neun Literaturpreise vergeben. Zur Preisverleihung war auch Bundesrat Alain Berset gekommen, der die Preise persönlich übergab. Die höchste Literaturauszeichnung der Schweiz – der Grand Prix Literatur – wurde Adolf Muschg für sein Lebenswerk verliehen.
Die Jury begründete ihre Entscheidung mit dem Humanismus und dem Engagement von Adolf Muschg. Mit seinem „unermüdlich kritischen Geist“ habe der Schriftsteller ein Gesamtwerk geschaffen, das aus Romanen, aber auch aus Essays zu literarischen und zeitgeschichtlichen Themen besteht.
Zweisprachige Laudatio von Alain Berset
In seiner zweisprachigen Laudatio hob Kulturminister Alain Berset hervor, dass Muschg die „Vertreter des Realitätsprinzips“ immer wieder daran erinnere, dass diese Realität anders ist und auch anders sein könnte und sollte. Besonders eindrucksvoll sei, dass er in seinen Büchern und Essays politische Themen nie als Politiker und im Hinblick auf den „Sieg in der Debatte“, sondern stets „aus dem Geiste der Literatur“ heraus behandelt. Im politischen Schlagabtausch und in gesellschaftlichen Debatten habe der Schriftsteller die kritische Hinterfragung der eigenen Position nie ausgespart, was ihn – in den Worten von Berset – besonders ehrt.
Muschgs Dankesrede: Würdigung der Schweiz und ein politischer Rüffel für die Deutschen
Der Grand Prix Literatur der Schweiz ist nur einer von mehreren Literaturpreisen, die Adolf Muschg für sein Werk bisher erhalten hat. 1994 wurde ihm der Georg-Büchner-Preis – die wichtigste literarische Auszeichnung im deutschsprachigen Raum – verliehen. Büchner-Preisträger waren mit Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt (1958 und 1986) bisher nur zwei weitere Schweizer. Vor allem dem deutschen Literatur- und Medienbetrieb war Muschg in seinem öffentlichen Wirken eng verbunden. In seiner Dankesrede zur aktuellen Preisverleihung widmete er sich jedoch explizit der Schweiz – unter anderem seinem Stolz darauf, in einem Land zu leben, das seinen letzten Bürgerkrieg im Jahr 1847 ausgetragen hat. Auch die Wurzeln von einem Teil der Schweizer Identität in der deutschsprachigen Literaturgeschichte, konkret in Schillers „Wilhelm Tell“, fanden seine Anerkennung. Die aktuelle politische Lage in Europa sparte Muschg in seiner Rede ebenfalls nicht aus. Speziell der deutschen Regierung hielt er vor, dass ihr Umgang mit den Griechen einem europäischen Konsens nicht angemessen sei, was das Publikum in Bern mit einiger Belustigung quittierte. Muschg schloss mit einem ästhetischen Traum, der darin besteht, eine Stiftung für schöne Handlungen zu gründen. Möglicherweise ist die Schweiz ja eines Tages der richtige Ort dafür.
Eine Biografie zwischen Literatur und Politik
In einem Zeitungsinterview zu seinem 80. Geburtstag hat Adolf Muschg seine Biografie einmal im Zeitraffer – in acht Zehnjahres-Sprüngen – erzählt. Heute lebt er mit seiner dritten Ehefrau Atsuko Muschg in Männedorf bei Zürich. Beruflich pendelt er nach wie vor häufig nach Berlin. Seit 1976 ist er Mitglied der dortigen Akademie der Künste, ab 2003 war er deren Präsident, trat von diesem Amt 2005 wegen „unüberbrückbarer Differenzen“ mit dem Senat der Akademie jedoch wieder zurück. Ein wichtiger privater Ort für ihn ist Atsukos Heimatstadt Kyoto. Geboren wurde Adolf Muschg am 13. Mai 1934 in Zollikon als Sohn des Primarschullehrers Adolf Muschg sen. und Frieda, dessen zweiter Ehefrau.
Sein Halbbruder Walter Muschg (1898 bis 1965) war Literaturhistoriker, Essayist und von 1939 bis 1943 auch Nationalratsmitglied – mit seinem heute berühmteren Bruder war er zeitlebens eher aus der Distanz heraus verbunden. Adolf Muschg selbst studierte nach seiner Matura Germanistik, Anglistik und Philosophie in Zürich sowie Cambridge. Nach seiner Promotion arbeitete er zunächst im Schuldienst und später als Hochschullehrer, was ihn unter anderem nach Göttingen, die USA und Japan führte. Ab 1970 bis zu seiner Emeritierung 1999 war er Professor für deutsche Sprache und Literatur an der ETH Zürich.
Verknüpfung von literarischem Schreiben und politischer Positionierung
Sein erstes Buch „Im Sommer des Hasen“ veröffentlichte Muschg im Jahr 1965, darauf folgten – meist in Zwei-Jahres-Intervallen zahlreiche andere Werke. Auch heute schreibt er nach eigener Aussage noch so gut wie jeden Vormittag. Sein Schreiben bezeichnet er als Training von Wahrnehmung und Fantasie, aber auch als Frage und einen Weg des „Sehen-Lernens“, der niemals abgeschlossen ist, sondern zu „grösseren Fragen“ führt. 1969 verliess er zusammen mit Max Frisch, Friedrich Dürrenmatt und anderen Literaten aus Protest gegen reaktionäre Tendenzen den Schweizer Schriftstellerverband. 1971 gründete Muschg zusammen mit den anderen Sezessionisten die Gruppe Olten, die literarisches Schreiben untrennbar mit einer politisch verbindlichen und demokratisch fokussierten Staatsbürgerschaft verknüpfte. Die Gruppe Olten und der alte Schriftstellerverband lösten sich 2002 schliesslich auf, um im neuen Verband „Autorinnen und Autoren der Schweiz“ aufzugehen. Seine politische Positionierung als Schriftsteller hat Adolf Muschg nie aufgegeben. In Erinnerung dürfte vielen noch seine Kontroverse mit SVP-Chef Christoph Blocher sein, in der er die subversive Rolle von Intellektualität und Kunst gegen Denkverbote und Abschottungstendenzen verteidigt.
Sieben „kleinere“ Preise und ein Spezialpreis für Literaturvermittlung
Die Schweizer Literaturpreise gibt es seit 2012. Der mit 40.000 Franken dotierte Grand Prix Literatur für das Gesamtwerk der damit Geehrten wurde ein Jahr später zum ersten Mal vergeben. In diesem Jahr wurde er zum ersten Mal an eine Einzelperson und nicht an mehrere Autoren vergeben. Weitere Ehrungen mit einem Preisgeld von jeweils 25.000 Franken gingen an sieben Autorinnen und Autoren: Dorothee Elmiger, Hanna Johansen und Eleonore Frey schreiben und publizieren in deutscher Sprache. Guy Krneta hat sein aktuelles Buch „Unger üs. Familienalbum“ im Berner Dialekt verfasst. Frédéric Pajak und Noelle Revaz repräsentieren die französischsprachige und Claudia Quadri die italienischsprachige Literatur der Schweiz. Mit dem Spezialpreis werden in jährlichem Wechsel besondere Leistungen in den Bereichen Übersetzung und Literaturvermittlung ausgezeichnet. 2015 ging er an das Projekt „Roman des Romands“, das sich der Vermittlung zeitgenössischer Westschweizer Literatur in Gymnasialklassen widmet.
Fazit: Die literarische Gegenwart der Schweiz – lebendig, risikofreudig, bunt
In der neunköpfigen Jury für die Literaturpreise sassen Schriftsteller, Publizisten und Literaturwissenschaftler aus allen Schweizer Sprachregionen. Ihr Präsident – der Genfer Literaturwissenschaftler Dominik Müller – beschreibt den Auswahlprozess der sieben Preisträger aus über 250 Einsendungen als ein sorgfältiges Abwägen zwischen literarischen Äusserungen, die in ihren Intentionen, ihren Genres und ihrem individuellen Stil eigentlich nicht vergleichbar sind. Die innerschweizerischen Grenzen erwiesen sich bei den intensiven Gesprächen der Jury oft als schwerer zu überwinden als jene zwischen dem gleichsprachigen In- und Ausland. Die sieben preisgekrönten Werke sollen in ihrem Ensemble das Bild einer literarischen Gegenwart der Schweiz vermitteln, das lebendig, bunt und risikofreudig ist.
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